Das Buch „Österreich im Jahre 2020“ von Josef von Neupauer, geschrieben im Jahr 1893, erweckt logischerweise in diesem Jahr ein gewisses Interesse.
Hauptfigur des Buches ist Julian West, ein Charakter, der dem 1888 veröffentlichten Buch „Looking Backward: 2000-1887“ von Edward Bellamy entstammt. Dieser hat viele Jahre seines Lebens verschlafen und dadurch nun Gelegenheit, mit seinem Gefährten Mr. Forest eine Reise ins Österreich des Jahres 2020 zu unternehmen.1
„Wie das neunzehnte Jahrhundert die innerliche Einheit der Naturkräfte feststellte, haben wir zur Evidenz gebracht, daß die Ideen des Guten, Wahren und Schönen in ihrem Wesen nur ein Gesetz sind und das Gute nichts anderes ist, als das im menschheitlichen Sinne Zweckmäßige oder Ökonomische.“2
Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich bei diesem Werk in erster Linie um eine Gesellschaftskritik anstatt um einen ernsthaften Versuch einer Zukunftsprognose handelt.
Dies wird unter anderem sehr augenscheinlich an einer ausbleibenden Schilderung etwaiger technischer Entwicklungsmöglichkeiten demonstriert. Beispielsweise wird weiterhin mit Kutschen gefahren, obwohl im Jahr 1893 Rudolf Diesel bereits einen ersten Versuchsmotor entwickelt hatte und somit gewisse Entwcklungen auf diesem Gebiet sicher schon andenkbar gewesen wären.
In diesem Bereich hatte der Zeitgenosse Jules Verne (1828-1905) bekanntermaßen umfangreichere Ideen.
Anliegen des Buches ist vielmehr der Entwurf eines alternativen Gesellschaftsmodells in Form einer kommunistischen Monarchie.
Es gibt also weiterhin einen Kaiser, welcher für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des immer noch bestehenden Reiches zuständig ist.
Da Franz Josef während seiner Amtszeit große Schwierigkeiten überwunden hatte, wurde ihm nach seinem Tod der Beiname „der Standhafte“ verliehen, seine Nachfolge trat dann Franz Ferdinand an (welcher somit nicht 1914 in Sarajevo einem Attentat zum Opfer gefallen ist). Der gegenwärtige Kaiser wurde 1980 geboren und heißt Kaiser Rudolf.3
Ansonsten werden typische kommunistische Ideen wie das Fehlen von Privateigentum verarbeitet.
Einige Punkte erweisen sich als falsch. So sind im utopischen Wien zum Beispiel auch noch die Rotunde4 und die Zahradbahn5 erhalten.
Anderes wirkt unfreiwillig komisch oder macht skeptisch. Denn, wenn es beispielsweise heißt, „wir [kamen] um zehn Uhr nach Payerbach, wanderten im Mondschein nach Reichenau und von da auf den Schneeberg, wo wir ein wenig ruhten und zum Aufgang der Sonne geweckt wurden“6, kommen starke Zweifel auf, dass der Autor mit einem Aufstieg auf den Schneeberg vertraut ist.
Der Entwurf einer Union in Europa, auf welche jeder Monarch bei Amtsantritt einen Eid schwört, ist im Hinblick auf die heutige EU dafür nicht schlecht prophezeit, enthält in Detailfragen im Vergleich zu heute aber amüsant konträre und auch umfassendere Züge:
„‘Wir hoffen, daß England bald gezwungen sein wird, der Union beizutreten, und für die allerdings noch ferne Zukunft können wir wohl annehmen, daß ganz Asien für das Collektivprinzip wird gewonnen und dann Europa, Asien und Afrika, welche ja in Wirklichkeit nur einen Continent bilden, zu einem einzigen Staatenbunde werden vereinigt werden.‘“7
Auch im Gesundheitsbereich gibt es einen prognostisch zutreffenden Verweis, indem betont wird, dass Österreicher nicht rauchen, was zwar aktuell (noch) nicht zutreffend ist, aber bereits damit begründet wird, dass sich herausstellte, „daß das Rauchen manche specifische Krankheiten im Gefolge habe[…]“.8
Die Frage der Gleichberechtigung wird ebefnalls thematisiert und man betont, dass Frauen in allen wirtschaftlichen Belangen sowie in Verfassungsfragen ebenso fähig und kompetent seien wie Männer.9
Dieser Standpunkt wird leider etwas verwässert durch folgende stärker klischeebelastete Aussagen: „Die Frauen haben sich von allem Anfange an mit großem Tacte ein Gebiet erobert, auf dem sie herrschen, die Liebe und die Familie. Sie haben eingesehen, worin die Familie dem Staate Zugeständnisse machen muß.“10
Die Aussage, dass Klosterneuburg berühmt ist „wegen seines vortrefflichen Weines“11, mag ebenfalls eine zutreffende Prognose sein. Die Feststellung, dass Fässer mit Klosterneuburger Wein verschenkt wurden, „der zwar nicht hundert Jahre alt sei, aber aus dem besten aller bisherigen Weinjahre, dem Jahr 1985, stammte,“12 wirkt allerdings sehr erheiternd, wenn man bedenkt, dass es 1985 in Österreich den großen Weinskandal gab, bei welchen die Beigabe von Frostschutzmittel aufgedeckt wurde.
Im Jahr lebend, auf welches sich das Buch bezieht, würde sich das Interesse doch stärker auf konkrete Zukunftsprognosen richten, die man als ZeitzeugIn bestätigen oder widerlegen kann, als auf ein utopisches Modell, welches im Grunde die „üblichen“ Punkte verarbeitet, weshalb der Reiz des Buches doch im Verlauf des Lesens abnimmt. Es kann aber sicher nicht erwartet werden, Ereignisse wie zwei Weltkriege oder eine Pandemie vorherzusehen.
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2 Ebd. S. 122
3 Ebd. S. 34
6 Neupauer, Österreich S. 17
7 Ebd. S. 110
8 Ebd. S. 12
9 Ebd. S. 106
10 Ebd. S. 105
11 Ebd. S. 134
12 Ebd. S. 139