Dienstag, 10. Januar 2023

Tourenverzeichnis von Gustav Jahn, 1917

In der Ausstellung "Alpine Seilschaften", die noch bis 8.10.2023 in der Landesgalerie Niederösterreich in Krems zu sehen ist, wird eine Seite aus dem Tourenverzeichnis von Gustav Jahn aus dem Jahr 1917 gezeigt.

Zu Übungszwecken habe ich diese Seite einfach einmal transkribiert:


Erstersteigungen, neue Routen […]

13. Juli 1917

Langkofelkarspitze (S.W.-Kante I. Begehung)
D. Merlet, Lt. Reinitzer, Lt. Altoni[?]

Vom markierten Steig, der nahe unter der Langkofelkar=
spitze in das Plattkofelkar führt, nach 10-15 Minuten links ab.
Über eine kurze Wandstufe auf begrünte Schrofen und über
dieselben – immer links haltend – hinan, bis auf ein Schuttband,
welches teilweise ansteigend, manchmal auch als Rinne nach
Süden (rechts) führt.
Vers[...] […nde] durch eine kurze rinnenartige Ver=
schneidung empor und weiter auf den Gipfel eines Vorbaues jen=
seits durch eine Schneerinne rechts etwa 20m hinunter, worauf[?]
man die Rinne nach rechts verlässt – und über Schuttbänder in
kleine Trassen bis zum Fusse des schon vom Kar aus sichtbaren,
der Westkante vorgelegten Grates gelangt.
Durch einen Camin[?] oder rechts davon auf die Höhe
des Grates. Nun weiter an der Kante (ein kleines Schartel und
gleich darauf ein Überhang sind auffallende Punkte) bis sich
die rechten Wandpartien zu einer seichten, fast die ganze Wand=
seite einnehmenden Mulde vertiefen.
Durch dieselbe beliebig auf den Grat und in kurzer Zeit zum
Gipfel.

Schwierige Kletterei Zeit: 2-3 Stunden.

Tourenverzeichnis von Gustav Jahn, 1917 (Privatbesitz)

Bei "D. Merlet" handelt es sich um Dr. Erwin Merlet, der Gustav Jahn auf mehreren Touren begleitete. Zu den weiteren zwei Namen, sofern richtig transkribiert, was bisher nichts zu finden.

Gustav Jahn (1879-1919) war ein österreichischer Maler und Alpinist, der beide Tätigkeiten wunderbar zu kombinieren wusste. Letztlich starb er den Tod eines Bergsteigers, indem er vom Berg abstürzte.

Mehr Informationen zu Gustav Jahn: HIER

Informationen zur Ausstellung "Alpine Seilschaften": HIER


Dienstag, 25. August 2020

Österreich im Jahre 2020

Das Buch „Österreich im Jahre 2020“ von Josef von Neupauer, geschrieben im Jahr 1893, erweckt logischerweise in diesem Jahr ein gewisses Interesse.


Hauptfigur des Buches ist Julian West, ein Charakter, der dem 1888 veröffentlichten Buch „Looking Backward: 2000-1887“ von Edward Bellamy entstammt. Dieser hat viele Jahre seines Lebens verschlafen und dadurch nun Gelegenheit, mit seinem Gefährten Mr. Forest eine Reise ins Österreich des Jahres 2020 zu unternehmen.1

„Wie das neunzehnte Jahrhundert die innerliche Einheit der Naturkräfte feststellte, haben wir zur Evidenz gebracht, daß die Ideen des Guten, Wahren und Schönen in ihrem Wesen nur ein Gesetz sind und das Gute nichts anderes ist, als das im menschheitlichen Sinne Zweckmäßige oder Ökonomische.“2

Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich bei diesem Werk in erster Linie um eine Gesellschaftskritik anstatt um einen ernsthaften Versuch einer Zukunftsprognose handelt.

Dies wird unter anderem sehr augenscheinlich an einer ausbleibenden Schilderung etwaiger technischer Entwicklungsmöglichkeiten demonstriert. Beispielsweise wird weiterhin mit Kutschen gefahren, obwohl im Jahr 1893 Rudolf Diesel bereits einen ersten Versuchsmotor entwickelt hatte und somit gewisse Entwcklungen auf diesem Gebiet sicher schon andenkbar gewesen wären.
In diesem Bereich hatte der Zeitgenosse Jules Verne (1828-1905) bekanntermaßen umfangreichere Ideen.

Anliegen des Buches ist vielmehr der Entwurf eines alternativen Gesellschaftsmodells in Form einer kommunistischen Monarchie.
Es gibt also weiterhin einen Kaiser, welcher für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des immer noch bestehenden Reiches zuständig ist.
Da Franz Josef während seiner Amtszeit große Schwierigkeiten überwunden hatte, wurde ihm nach seinem Tod der Beiname „der Standhafte“ verliehen, seine Nachfolge trat dann Franz Ferdinand an (welcher somit nicht 1914 in Sarajevo einem Attentat zum Opfer gefallen ist). Der gegenwärtige Kaiser wurde 1980 geboren und heißt Kaiser Rudolf.3

Ansonsten werden typische kommunistische Ideen wie das Fehlen von Privateigentum verarbeitet.

Einige Punkte erweisen sich als falsch. So sind im utopischen Wien zum Beispiel auch noch die Rotunde4 und die Zahradbahn5 erhalten.
Anderes wirkt unfreiwillig komisch oder macht skeptisch. Denn, wenn es beispielsweise heißt, „wir [kamen] um zehn Uhr nach Payerbach, wanderten im Mondschein nach Reichenau und von da auf den Schneeberg, wo wir ein wenig ruhten und zum Aufgang der Sonne geweckt wurden“6, kommen starke Zweifel auf, dass der Autor mit einem Aufstieg auf den Schneeberg vertraut ist.

Der Entwurf einer Union in Europa, auf welche jeder Monarch bei Amtsantritt einen Eid schwört, ist im Hinblick auf die heutige EU dafür nicht schlecht prophezeit, enthält in Detailfragen im Vergleich zu heute aber amüsant konträre und auch umfassendere Züge:

„‘Wir hoffen, daß England bald gezwungen sein wird, der Union beizutreten, und für die allerdings noch ferne Zukunft können wir wohl annehmen, daß ganz Asien für das Collektivprinzip wird gewonnen und dann Europa, Asien und Afrika, welche ja in Wirklichkeit nur einen Continent bilden, zu einem einzigen Staatenbunde werden vereinigt werden.‘“7

Auch im Gesundheitsbereich gibt es einen prognostisch zutreffenden Verweis, indem betont wird, dass Österreicher nicht rauchen, was zwar aktuell (noch) nicht zutreffend ist, aber bereits damit begründet wird, dass sich herausstellte, „daß das Rauchen manche specifische Krankheiten im Gefolge habe[…]“.8

Die Frage der Gleichberechtigung wird ebefnalls thematisiert und man betont, dass Frauen in allen wirtschaftlichen Belangen sowie in Verfassungsfragen ebenso fähig und kompetent seien wie Männer.9
Dieser Standpunkt wird leider etwas verwässert durch folgende stärker klischeebelastete Aussagen: „Die Frauen haben sich von allem Anfange an mit großem Tacte ein Gebiet erobert, auf dem sie herrschen, die Liebe und die Familie. Sie haben eingesehen, worin die Familie dem Staate Zugeständnisse machen muß.“10

Die Aussage, dass Klosterneuburg berühmt ist „wegen seines vortrefflichen Weines“11, mag ebenfalls eine zutreffende Prognose sein. Die Feststellung, dass Fässer mit Klosterneuburger Wein verschenkt wurden, „der zwar nicht hundert Jahre alt sei, aber aus dem besten aller bisherigen Weinjahre, dem Jahr 1985, stammte,“12 wirkt allerdings sehr erheiternd, wenn man bedenkt, dass es 1985 in Österreich den großen Weinskandal gab, bei welchen die Beigabe von Frostschutzmittel aufgedeckt wurde.

Im Jahr lebend, auf welches sich das Buch bezieht, würde sich das Interesse doch stärker auf konkrete Zukunftsprognosen richten, die man als ZeitzeugIn bestätigen oder widerlegen kann, als auf ein utopisches Modell, welches im Grunde die „üblichen“ Punkte verarbeitet, weshalb der Reiz des Buches doch im Verlauf des Lesens abnimmt. Es kann aber sicher nicht erwartet werden, Ereignisse wie zwei Weltkriege oder eine Pandemie vorherzusehen.

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1 Josef von Neupauer, Österreich im Jahre 2020. Sozialpolitischer Roman (Dresden 1893, Auflage 2017) 3.
2 Ebd. S. 122
3 Ebd. S. 34
4 Die Rotunde wurde anlässlich der Weltausstellung 1873 erbaut und brannte im Jahr 1937 ab.
5 Die Zahnradbahn auf den Kahlenberg war von 1874 bis 1919 in Betrieb.
6 Neupauer, Österreich S. 17
7 Ebd. S. 110
8 Ebd. S. 12
9 Ebd. S. 106
10 Ebd. S. 105
11 Ebd. S. 134
12 Ebd. S. 139



Dienstag, 5. Mai 2020

Stützen der Gesellschaft: Caesar III vs. Covid-19

Ziel von Strategiespielen wie Caesar III1 ist der Aufbau einer Gesellschaft, beginnend von den grundlegenden Bedürfnissen bis hin zum Erwerb einer gewissen Lebensqualität, so dass Stadt/Staat entsprechend florieren können.

In Caesar III beginnt man hierfür ganz grundlegend mit der Errichtung von Wohnstätten und einer Wasserversorgung. Der Ausbau der Wohnstätten erfolgt dann je nach Versorgung bzw. Erfüllung der Bedürfnisse der SiedlerInnen.
Nach dieser ersten Grundsteinlegung ist eine gewisse Infrastruktur zum Erhalt der Sicherheit erforderlich. Präfekturen und Ingenieursposten sollen vor Schäden an Gebäuden oder Kriminalität bewahren.
Mit Errichtung des Senatsgebäudes wird gewissermaßen der Staat installiert, um Steuereinnahmen generieren zu können.

Screenshot aus Caesar III

Wichtiger nächster Schritt sind zugleich die Beschaffung und Verteilung von Nahrung sowie die Errichtung von Tempeln zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse, seitens der Bevölkerung einerseits und der Götter andererseits (niemand möchte, dass Ceres oder Mars mangels Verehrung erzürnt sind).

In weiterer Folge wird die Qualität dieser Grundversorgung entsprechend erhöht und erweitert, indem mittels Aquädukten die Wasserversorgung verbessert, das Gesundheitssystem (durch Badehäuser, Ärzte usw.) etabliert werden.
In der Folge sehnt sich das Volk dann nach Unterhaltung, welche in Form von Theatern, Kolosseum u. dgl. aufgebaut wird.
Es folgt die Errichtung weiterer Gewerbe (Geschirr, Möbel, Waffen etc.) und die Erfüllung des Wunsches der Bevölkerung nach Bildung (Schulen, Bibliotheken).

Allgemein zusammengefasst, beginnt die Gesellschaft mit der Sicherstellung von Wohnraum, Sicherheit und wichtiger Infrastruktur wie Straßen und Wasserversorgung (Strom, Telefonie und Internet waren im alten Rom noch kein Thema, würden aber ebenso in diese Kategorie fallen). Es folgen Nahrungsversorgung, Religion, Unterhaltung2, der Erwerb zusätzlicher Güter und abschließend Bildung.

Aufgrund der Maßnahmen rundum Covid-19 bietet sich ein Vergleich an zu heutigen Prioritäten der gesellschaftlichen Stützen.3
Grundsätzlich spielt sich der Lebensstandard heute bereits auf weit höherem Niveau ab und es musste nicht wieder bei einem grundsätzlichen Aufbau begonnen werden.
Aber die Grundlagen in Form von Wohnraum, Sicherheit und Infrastruktur sind grundsätzlich gleich geblieben. Ebenso wurde die Grundversorgung durch Nahrungsmittel immer aufrecht erhalten.

Da die schrittweisen Lockerungen mit der allmählichen Öffnung weiterer Geschäfte beginnen, kommt dem Erwerb zusätzlicher Güter heutzutage eine größere Bedeutung zu als im alten Rom. Stattdessen wurde die einstmals wichtige Rolle der Religion auf die hinteren Plätze verwiesen.
Bei der Unterhaltung scheinen sich die Zeitalter in den einzelnen Facetten gewissermaßen etwas zu scheiden. Sportlichen Betätigungen und Veranstaltungen wird heute eine wichtigere Rolle zugeschrieben (z.B. Öffnung von Tennisplätzen oder Veranstaltung von Geisterfußballspielen/Geisterautorennen). Der kulturelle Bereich der Unterhaltung bildet hingegen gemeinsam mit der Bildung den Abschluss.4

Spiele wie Caesar III müssen zur Wahrung der Spielbarkeit komplexe gesellschaftliche Prozesse entsprechend vereinfachen, so wurden auch die Maßnahmen zu Covid-19 nicht in aller Ausführlichkeit herangezogen.

Der Vergleich mag somit gewisse Mängel aufweisen, aber die Grundessenz, die sich dennoch zu ergeben scheint, ist das Abrutschen der Religion und das gleichbleibende Verweilen von Kultur und Bildung auf den hinteren Rängen.

Nichts Neues unter der Sonne?


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1 https://de.wikipedia.org/wiki/Caesar_(Spieleserie)#Caesar_III [05.05.2020]  
2 Die in Caesar III subsumierte Unterhaltung müsste für heutige Verhältnisse wohl genauer unterteilt werden in Sport (Gladiatorenkämpfe, Wagenrennen) und Kultur (Theater).  
3 Ich beziehe mich für den Vergleich auf die in Österreich vorgenommenen bzw. geplanten Lockerungen nach dem Lockdown. Siehe beispielsweise unter: https://orf.at/corona/stories/3163885/ [05.05.2020]  
4 Eine gewisse Verflechtung von Bereichen ist zweifelsohne gegeben, welche hier für eine vereinfachte grundlegende Darstellung außer Acht gelassen werden muss.

Sonntag, 6. August 2017

Wundersames im Schloss

Es mag nicht ganz klar sein, ob es sich tatsächlich um das älteste Museum der Welt handelt. Konkurrent für diesen Titel sind etwa die Vatikanischen Sammlungen, deren Gründungsmoment mit dem Fund der Laokoon-Statue 1506 datiert wird.
Nichtsdestoweniger handelt es sich bei Schloss Ambras um einen eindrucksvollen Sammlungsort, dessen ursprüngliche mittelalterliche Burg definitiv das ältere Museumsfundament darstellt. 

Schloss Ambras - Hochschloss
Von Erzherzog Ferdinand II. (1529-1595) für seine Frau Philippine Welser in ein Renaissanceschloss umgebaut, wurde es eigens als musealer Ort konzipiert, um Platz für die umfangreichen Sammlungen des Erzherzogs zu bieten.

Im Hochschluss findet man heute eine umfassende Porträtgalerie der Habsburger, gotische Skulpturen und die Glassammlung Strasser sowie derzeit eine Sonderausstellung zum Leben, Schaffen und Sein von Erzherzog Ferdinand II. selbst.
Die beeindruckendsten Objekte sind die der Kunst- und Wunderkammer des Schlosses, weil hier beispielsweise mit Bildern des Haarmenschen, eines Riesenschweins, einer Figur „Tödlein“ genannt und insbesondere dem „Ambraser Schüttelkasten“ eher unübliche Gegenstände anzutreffen sind. 

Tödlein
Neben den darin befindlichen Schaustücken ist auch das Gebäude selbst ein Erlebnis. Der Weg führt unter anderem durch eine Kapelle des St. Nikolaus, das Bad der Philippine Welser inklusive Heiz- und Schwitzraum sowie den Spanischen Saal, welcher sehr aufwendig mit den Porträts der Tiroler Landesfürsten ausgestaltet wurde. Die Wände des Innenhofes sind mit Grisaillemalereien verziert. 

Spanischer Saal
Die sehr schöne Parkanlage – auch mit einer Bacchus-Grotte (leider ohne Wein) – komplettiert das Schloss als Empfehlung für ein landschaftlich schönes und kulturell wertvolles Ausflugsziel.

Bacchus-Grotte
Wiederbesuchswert haben für mich vor allem das Gebäude selbst und die charmanten Objekte der Wunderkammer. Die Porträtgalerie ist mit ihrer Fülle für einen Tag etwas überfordernd und macht auf alle Fälle eine Schwerpunktsetzung empfehlenswert.

Die Sonderausstellung zu Ferdinand II., die noch bis 8. Oktober 2017 zu sehen ist, wurde sehr nett aufbereitet. Die Begrüßung durch einen virtuellen Ferdinand II. zu Beginn sorgt (neben Werbung für das Jubiläumsjahr von Maria Theresia) für eine gewisse humoristische Note. Die gezeigten Objekte sind gut ausgewählt und aufbereitet (trotz überwiegend gedämpfter Beleuchtung hat man es nicht verabsäumt, auf lesbare Beschriftungen zu achten).

Infos:
https://www.schlossambras-innsbruck.at/ 

Montag, 8. Mai 2017

#PlayingHistory - Spielerische Geschichte: Illusionen

Spiele werben zum einen gerne als marktwirtschaftliche Strategie mit Historie als Anreiz, um durch die spielerisch kreierte Illusion, handelnd in Geschichte eingreifen zu können, einem gewissen Wiedererkennungswert von Geschichte usw.1
Das dadurch ebenfalls geweckte Interesse seitens der HistorikerInnen, sich diesen Spielen aus wissenschaftlicher Perspektive zu widmen, fällt jedoch kritisch aus, weil der Unterhaltungsanspruch gerne eine zu rigorose Reduktion der historischen Sachverhalte provoziert, was letztlich von wissenschaftlicher Seite (wenn auch nicht unbedingt gerechtfertigt) kritisiert wird.

Eine Möglichkeit, einem solchen Dilemma zu entgehen, sind scheinbar Spiele, die von Vornherein klarstellen, in einer fiktiven Welt zu spielen und sich nur bedingt an reale historische Ereignisse anlehnen.
Solchen Spielen kann der Vorwurf, Geschichte unzulässig zu verdrehen bzw. zu verkürzen eigentlich nicht mehr gemacht werden.

Ein jüngeres Beispiel für Spiele dieser Art ist „Herald – An Interactive Period Drama“2, von welchem die ersten zwei Bücher erschienen sind und das bereits mit der Aussage beginnt, dass sich die Ereignisse recht zufällig and reale historische Gegegebenheiten anlehnen bzw. von diesen inspiriert werden.

Screenshot aus dem Spiel

Da hier nicht einmal mehr der Anspruch erhoben wird, real Geschehenes wiederzugeben, scheint es wenig zielführend zu sein, diesen Spielen einen wissensvermittelnden Nutzen zusprechen zu wollen. Zudem ist bereits vorab ein gewisses Maß an historischem Wissen erforderlich, weil das Spiel selbst nicht klarstellt, wann es Fiktion ist oder historische Fakten verwendet.

Ein weiterer Vorteil dieser Taktik ist eine Ausflucht vor der Tatsache, dass die Rezeption historischer Ereignisse für eine spielerische Handlung möglicherweise nicht in der Lage ist, ausreichend unterhaltsame Spannung aufzubauen, weil schließlich der Ausgang historischer Ereignisse bereits bekannt ist.3
Durch den Fiktionsanspruch von „Herald“ bleibt offen, ob es eine Abweichung von den kontextualisierenden historischen Ereignissen geben wird.

So wird man also an Board der Herald in eine fiktive Geschichte entlassen, welche die Gestaltung ihres Umfeldes aus realen historischen Ereignissen requiriert. Schnell wird klar, dass man sich im Dunstkreis der britischen Kolonialherrschaft befindet, kurz vor dem indischen Aufstand im Jahr 1857.

Screenshots aus dem Spiel

Diese Illusion von Historizität wird durch eine entsprechende optische Gestaltung der Charaktere, durch die Einbettung mancher Schriftstücke wie beispielsweise einer Zeitung veranschaulicht oder auch durch eine Jahreszahl auf dem Rettungsring.

Screenshots aus dem Spiel

Ebenso wird mit der Typisierung des Schiffes die zeitliche Epoche auf das 19. Jh. gefestigt, war doch der Klipper ein in diesem Zeitraum vorherrschendes Segel- und Transportschiff.

Neben der historischen optischen Illusion des 19. Jhs. suggeriert das Spiel auch die entsprechende historisch valide Vergangenheit.

In Form von Gemälden im Schiff finden sich etwa Belege für die Englisch-Niederländischen Seekriege – wie die Schlacht von Scheveningen 1653 oder den Friedensvertrag von Westminster 1654.4

Screenshots aus dem Spiel

Um seinen, wenn auch aufgrund seiner verschwommenen Grenzen zwischen Fakt und Fiktion marginalen, aber durchaus vorhandenen erkenntisfördernden Nutzen zu unterstreichen, bietet das Spiel in Form von Tagebuchnotizen zu im Spiel gefundenen Gegenständen weitere diverse Informationen.

Screenshot aus dem Spiel

Wobei es bei all diesen Angaben nicht nur aufgrund der Ankündigung zu Beginn wenig ratsam erscheint, die im Spiel dargelegten Informationen unhinterfragt zu akzeptieren.

Das Spiel betreibt wissentlich keinen Geschichtsunterricht, sondern betont von Vornherein, dass es sich um einen alternativen Entwurf handelt, der lediglich an manchen Stellen reale Ereignisse aufgreift. Inwieweit Abweichungen bestehen, wird vielleicht der künftige Fortgang der Geschichte deutlicher zeigen. Bis jetzt sind nur die ersten zwei Bücher von „Herald“ erschienen und somit bleibt offen, ob fiktiv dennoch ungefähr reale Geschichte nacherzählt oder kontrafaktische Geschichte betrieben wird.

Somit bleibt ebenfalls unklar, ob die anfängliche Ankündigung ein reiner Unterschied in der Formulierung ist und letztlich kein Unterschied zur Betrachtungsweise von Spielen besteht, die betonen, dass sie sich an realen Ereignissen orientieren oder tatsächlich Sinn in einer solchen Unterscheidung liegt.

Fortsetzung folgt, wenn die Fortsetzung vom Spiel folgt...
 

1 Angela Schwarz, Siegen ist erst der Anfang, oder: Was kommt nach der Annäherung an die Geschichte im Computerspiel? In: Angela Schwarz (Hg.), „Wollten Sie auch immer schon einmal pestvereuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen?“ Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im Computerspiel (Münster 22012) 266f. 
2 https://en.wikipedia.org/wiki/Herald:_An_Interactive_Period_Drama  
3 Angela Schwarz, Narration und Narrativ. Geschichte erzählen in Videospielen. In: Florian Kerschbaumer, Tobias Winnerling (Hg.), Frühe Neuzeit im Videospiel. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven (Bielefeld 2014) 30.  
4 http://www.ieg-friedensvertraege.de/treaty/1654%20IV%205%20Friedensvertrag%20von%20Westminster/t-1103-3-de.html